13 Die Theorie vom Falschen Selbst

Wir haben da so unsere Zweifel. Warum? Weil wir sehr oft auf Menschen treffen, die keinen guten Zugang zu ihren eigenen Bedürfnissen haben. Und das wirft sofort eine weitere Frage auf:

Wie soll ein Mensch, der keinen guten Zugang zu seinen eigenen Bedürfnissen hat, einen guten Zugang zu den Bedürfnissen von anderen Menschen haben können?

Oder anders formuliert:

Wie kann jemand, der wenig Empathie für sich selbst aufbringen kann, Empathie und Verständnis für andere Menschen aufbringen?

An dieser Stelle müssen wir eine weitere Theorie bemühen. Sie stammt von dem Psychoanalytiker Donald Winnicott. Es geht um das Falsche Selbst (S. 140-152).

Diese Theorie besagt: Das Falsche Selbst ist eine defensive Fassade, hinter der sich ein Mensch hohl und leer fühlen kann, da seine Verhaltensweisen eher erlernt und kontrolliert sind als spontan und echt. Ein Falsches Selbst entwickelt sich oft bereits in einem sehr frühen Alter.

Kinder, die viele Anteile eines Falschen Selbst haben, sind in ihrer individuellen Entfaltung behindert. Sie müssen viel leisten, sich anpassen und funktionieren. Dadurch können sie auch nicht wirklich herausfinden, wer sie selbst sind. Und sie bekommen ihre Wünsche nach Zuneigung nicht bedingungslos beantwortet.

Wenn sehr viele unterschiedliche Lebensbereiche von falschen Selbst An teilen betroffen sind, staut sich bei diesen Kindern viel Frust und auch Wut

auf. Dieser Frust und die Wut bleiben aber oft hinter den falschen Selbstanteilen verborgen. Solche Menschen verlieren immer mehr den Zugang zu ihren eigenen Bedürfnissen und letztendlich spalten sie ihre Bedürfnisse sogar ab.

Durch die Abspaltung haben sie dann überhaupt keinen Zugang zu ihren eigenen Gefühlen und, was die Sache noch bedenklicher macht, sie sprechen diese Gefühle nun vermehrt auch anderen ab. Sie haben wenig Empathie für sich selbst entwickelt und können sie somit auch nicht für andere aufbringen.

Hier sind die Eltern gefordert, das ist keine Frage! Wir dürfen aber an dieser Stelle auch nicht die Schule mit ihren Rahmenbedingungen außer Acht lassen, weil es hier auch um Leistungsdruck (viel leisten und funktionieren müssen) geht. Wir müssen uns fragen, wie die Schule an sich ein Ort sein kann, an dem persönliches Wachstum gefördert wird und junge Menschen sich möglichst frei entfalten können?

Warum ist das wichtig? Was hat das mit Demokratie zu tun?

Kommen wir noch einmal auf die Grundbedürfnisse zu sprechen, wie sie William Glasser formuliert hat, und stellen wir sie in Bezug zu der Theorie des Falschen Selbst von Donald Winnicott. Ein Wahres Selbst – das Gegenstück zu einem Falschen Selbst – hat ein Mensch demnach also entwickelt, der einen guten Zugang zu seinen eigenen Bedürfnissen hat. Jemand, der Empathie für sich selbst aufbringen kann, ist auch eher in der Lage, anderen Menschen empathisch zu begegnen.

Abbildung 13: Wahres Selbst


A person with a False Self does not have good access to his or her own needs. Because he or she has little access to his or her own needs, he or she can also have little empathy for other people.

Abbildung 14: Falsches Selbst

Je mehr Falsche Selbst Anteile ein Mensch hat, desto eher ist er auch in Gefahr, sich antidemokratisch zu verhalten, weil es ihm an Empathie für sich selbst und für andere mangelt.